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Ab 1936 gab es in Radolfzell eine sich schnell vergrößernde SS-Kaserne, in der eine Unterführerschule, ein SS-Regiment und weitere Verfügungstruppen untergebracht waren, in den Betrieben Schiesser und Allweiler arbeiteten zahlreiche Zwangsarbeitskräfte. Die rund 50 Häftlinge (ein Arbeitskommando des KZs Dachau) waren in der Radolfzeller Kaserne in ehemaligen Stallungen untergebracht. Weitaus mehr Häftlinge - ebenfalls aus Dachau wurden in Überlingen gegfangengehalten. Rund 700 Gefangene bildeten dort ein Arbeitskommando bei der Firma "Magnesit".

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Flucht aus der SS-Kaserne in Radolfzell

So bekannt dürfte die Geschichte nicht sein, auch nicht in Radolfzell: Leonhard Oesterle wurde 1935 von der Gestapo verhaftet, nachdem er sich im Alter von 20 Jahren in eine kommunistische Funktionärin verliebt hatte. Die Strafe für angebliche Vorbereitung zum Hochverrat: 5 Jahre Zuchthaus mit anschließender Schutzhaft. Die letzten Jahre seiner Gefangenschaft verbrachte Oesterle im Außenlager Radolfzell des Konzentrationslagers Dachau. Am Bahnhof kam Oesterle in Radolfzell zusammen mit weiteren Dachau-Häftlingen an und marschierte zur Radolfzeller SS-Kaserne. Leonhard Oesterle stieg in der internen Lagerhierarchie schnell auf: Er wurde zum Stubenältesten ernannt.

In Radolfzell mussten die Gefangenen von Hand Schießstände für die jungen Soldaten bauen, Oesterle selbst war zudem als Pfleger tätig, musste Kochgeschirr reinigen und durfte schließlich sogar malen: Ein Bild heroischer Soldaten, Handgranaten aus einem Unterstand schleudernd. Der Radolfzeller Kasernenkommandant wollte wohl die schönste Kaserne in Hitlers Reich werden. Den entsprechenden Wettbewerb soll es wirklich gegeben haben. Die Malerei sollte sich im Nachhinein als Glücksfall erweisen: Der zwangsverpflichtete Maler wurde von einem jungen SS-Mann bewacht, der offensichtlich unzufrieden war, in die Schweiz wollte. Und Leonhard Oesterle hatte schon länger mit Fluchtgedanken gespielt. Der junge SS-Mann vermittelte dem Häftling interessante Hintergrundinformationen. Wohl um das Jahr 1943 rechneten viele in der Radolfzeller Kaserne - auch SS-Leute - mit dem vorzeitigen Ende des tausendjährigen Reiches. Die Disziplin ließ nach und Oesterle versuchte Post aus der Kaserne zu schmuggeln, an seine Schwester Hanna. Ein gefährlicher Versuch, wie sich herausstellen sollte: Der Brief wurde aufgegriffen und Tage später vermutete der Häftling, dass die Gestapo bereits mit dem Fall betraut sei.

Über ein Toilettenfenster schließlich flüchteten Leonhard Oesterle und ein weiterer Häftling 1943 wahrscheinlich über das Herzenbad mit einem Boot über den See in die Schweiz, wo sie nach eigenem Bezeugen von Oesterle herzlich aufgenommen worden seien. Auch wenn das Lager in Radolfzell wahrscheinlich nicht vergleichbar war mit vielen anderen Lagern in Deutschland, auch in Radolfzell spielten sich unschöne Szenen ab: Als mehrere Tschechen zu fliehen versucht hatten, ließ das Wachpersonal alle Häftlinge stillstehen, die ganze Nacht hindurch und den nächsten Tag ebenso. Es gab weder Essen noch Trinken, noch durfte sich einer der Häftlinge aus der Reihe entfernen. Die Geschichte von Leonhard Oesterle gibt es in Buchform: "Glücksvogel" heißt die Geschichte von Leonhard, Autor ist Sigbert E. Kluwe. Leonhard Oesterle selbst ist 1956 nach Kanada ausgewandert und wurde Bildhauer.

Anatol Hennig


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