Wie Künstler hier Nachbarn wurden, hat die Kunsthistoriker stets fasziniert. Natürlich war die Höri attraktiv: Kurzer Weg zur Schweiz! Wer 1936 als "Entarteter" ausgesondet war, der musste um seine Existenz, sein Leben fürchten. Otto Dix baute sich sein Haus in Hemmenhofen. Die innere Emigration ist in seinem Werk spürbar. Brüche erlebten viele Künstler.
Umso bedeutender ist die Singener Kunstausstellung, die es erstmals 1948 gab (die Überlinger waren schneller). Die Kunstausstellung 1955 macht das Problem deutlich: Karl Möritz, der 1936 im "Haus der Kunst" in München ausgestellt wurde, war in der Singener Ekkehardschule neben den Künstlern vertreten, die dann nicht mehr ausstellen durften. Später gab es Möritz hier nicht mehr. Verpönt waren Künstler seiner Generation im Prinzip erst später. Der Bogen um die akzeptierte Kunst des Naziregimes wurde immer größer. Zugleich drohte die Fehlspekulation, jeder ausgebombte Künstler sei ein Nazi-Opfer gewesen. Blicke in die Kunstausstellung von 1955 in Singen verdeutlichen aber auch, wie hart die Hackordnung unter den Künstlern war. Damals war die Sammlung von Berthold Müller-Oerlinghausen noch das zentrale Angebot.
Er zeigte Arbeiten von Picasso, Braque, Corinth, Barlach, Nolde, Kokoschka und Kirchner in Singen. Als sein Brunnen in Singen später zur Debatte stand, bekam er nackte Schultern zu sehen. Die Kunst und die Höri, das ist eine große Geschichte, die im Gaienhofener Höri-Museum bestens dokumentiert ist. Rudolf Stuckert und seine Frau sind in Bettnang die letzten Repräsentanten einer Zeit, die vom deutschen Faschismus bestimmt war. Max Ackermann war dabei, Otto Dix der geistige Kopf, Curth Georg Becker der künstlerische Leiter der Ausstellung. Er war der Singener im Konzert der Großen. Richard Dilger kam aus Allensbach, Ferdinand Macketanz, Friedrich Mengele, Wilhelm Rüdy, Hans Sauerbruch, Erich Heckel, William Straube, Matthias Goll und viele andere waren dabei. Der Weg zur heutigen "konkreten Kunst" war noch weit. Die Brücken zur Schweiz mussten noch geschlagen werden. Die Zeit der Kunstmuseen und Galerien war längst nicht gekommen. Viele Künstler verkauften die nassen Bilder, um ihr tägliches Brot finanzieren zu können. Der Singener Oberbürgermeister Theopont Diez war kunstsinnig und förderte die Ausstellung auch durch Ankäufe.
Doch auch er war politisch vorsichtig: Die frühen Werke von Dix und seinen Zeitgenossen kaufte er nicht. Schade! Sonst wäre die Stadt heute möglicherweise reich: Die großen Künstler waren hier - doch wir erkannten sie erst nach dem Tod! Der Weg der Kunst führte weiter. Friedrich Mengele zog es nach Radolfzell, die Allensbacher Kunstausstellung sollte zum Pendant zu Singen werden. Kunst auf dem Dorf, das war der Anfang der Hilzinger Kunstausstellung in den 70er Jahren. Paul Gönner, der später auch Präsident des Singener Kunstvereins wurde, machte aus dem dortigen Rathaus einen Tempel zeitgenössischer Kunst.
Hans Paul Lichtwald