Jahr/Epoche

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Im Herbst 1978 erschien plötzlich in den Sprachkursen des Vereins für Vorschulerziehung eine Schar fremdländischer Kinder. Krank, zerlumpt und mager. Wir Betreuerinnen, an Hausbesuche bei "Gastarbeitern" gewohnt, kamen in ein in aller Stille vom Land angemietetes Wohnheim in der Bohlingerstrasse in Singen. So war also die erste Flüchtlingswelle nach den letzen Weltkriegen untergebracht worden und wir plötzlich, nachdem Flucht und Vertreibung für uns für immer erledigt schien, mit den Folgen eines Konflikts konfrontiert, der typisch für noch weitere war. Palästinenser, bei der Gründung des Staats Israel vertrieben, in Nachbarländern jahrzehntelang als Mahnung kaserniert, traf es beim Krieg im Libanon als "Minderheit" als erste.

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Geschichte des Landkreises Konstanz

Die Krisen der Welt finden auch im Hegau statt

In Singen lebten nun also Großfamilien bis zu zehn Personen in einem Zimmer, Gemeinschaftsräume, Sozialhilfe, keinerlei Betreuung. Schule, Arbeit Integration untersagt - alles als hoffentlich vorübergehender Spuk angesehen. Nachdem wir die verlockende Alternative - wegzusehen - nicht schafften, begannen wir den Alltag dieser hilflosen Familien zu organisieren, denn nur in einem geordneten Zuhause können Kinder gedeihen.

Trotz aller Widerstände konnten wir im Laufe der Zeit Sprachkurse, Kindergarten, Einschulung und später selbst die streng verbotene Ausbildung erkämpfen. Und wie richtig war diese Mühe im Nachhinein: Viele dieser Familien leben hier inzwischen mit deutschem Pass, die Kinder sind im Aufbaustudium oder bei der Bundeswehr. Was wäre aus dieser Jugend geworden, hätte man sie sich selbst überlassen? Zu diesen "Altfällen" kamen im Laufe der Jahre immer mehr Asylbewerber hinzu, denn neue Krisengebiete wuchsen: Eritrea, Iran, Irak, Indien, Pakistan, Afghanistan. Die Sozialhilfe wurde in Warenkörbe umgewandelt, eine nicht billigere, doch eine Abschreckungsmethode. Doch auch um diese Warenkörbe musste gegen deren Monotonie gekämpft werden. Ab 1986 wurden den Städten über 10000 Einwohner Quoten an Asylbewerbern zugeteilt. In dieser Zeit war das Bewußtsein für die weltweiten Zusammenhänge von Krisen und Katastrophen gewachsen.

Engagierte Bürger konnten als Paten für Flüchtlinge gewonnen werden, das war eine stille Integration. Das Thema Asyl fiel der Bevölkerung zu dieser Zeit vielleicht gar nicht so auf. Doch dann kam der Zusammenbruch des Ostens. Polen, Ungarn, Tschechen flohen in den Westen, die Öffnung der Mauer brachte Hunderttausende Übersiedler zu uns. So wurden Wohnraum und Arbeit knapp. Das Ende des kalten Krieges ließ die Politik immer weiter nach neuen Abwehrmechanismen suchen: Verschärfte Anerkennungskriterien, und der Status des "politisch Verfolgten" peitschen die Stimmung auf. Apokalyptische Begriffe wie "Asylantentflut" ließen das Gefühl einer riesigen Bedrohung entstehen. Der Asylant wurde zum "Feindbild". Steine und Brandsätze Rechtsradikaler, Hasstiraden. Die Quoten wurden zudem immer weiter erhöht, der Streit um die Finanzierung zwischen Land, Kreis und Gemeinden goss zusätzliches Öl ins Feuer. Es kamen immer mehr Bürgerkriegsflüchtlinge, einmal sogar 50 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Es war höchste Zeit, in diese aufgeheitzte Stimmung mehr Aufklärung zu bringen. Das "3. Welt-Netz" wurde gegründet. Es sollte klar gemacht werden, wie der eigene Wohlstand und das Elend anderswo zusammenhängen.

Solidarität durch Kennenlernen erwies sich als die beste Methode, denn entsetzte Nachbarn kämpften später genauso intensiv für Schulen, Ausbildung und das Bleiberecht für "ihre" Flüchtlinge. Wir wanderten mit den Asylbewerbern von Tür zu Tür, luden zu Festen ein, gingen täglich in Schulen aller Art zum Unterricht, halfen den Lehrern, wir wagten uns an ganze Oberstufen, an Bundeswehrkompanien, in die Fußgängerzone zur Großveranstaltung. Freiwillige halfen immer mehr den seit 1986 zwar bezahlten, aber völlig überforderten Sozialarbeitern bei der Bewältigung des Alltags. Als Gegenprojekt begannen wir im internationalen Frauenkreis unser "Gastmahl". Wir wollten all die landestypischen Gerichte, die hier für die Flüchtlinge zu kochen nicht mehr möglich war, gemeinsam kochen und in einem Buch erhalten als positiven Teil mit dem die Flüchtlinge zu uns kommen. Gekocht haben 22 Länder, zum Gastmahl war jeder am dicht besetzten Tisch willkommen.

Das war auch ein Gefühl, nicht unerwünscht zu sein. Das gab den Menschen ein wenig ihrer Würde zurück. 1997 konnte das Buch mit einem Fest in der Sparkasse getauft werden. die ersten 1000 Exemplare waren bald vergriffen, eine zweite Auflage gibt es schon. Der Kreis hat inzwischen die Betreuung der Asylbewerber übernommen. Den Sozialarbeitern hier wurde gekündigt. Wir kümmern uns weiter mit dem DRK um Bürgerkriegs- und Asylbewerberfamilien. Doch es brauchte noch eine andere Lösung: Mit der drastischen Zunahme der Flüchtlinge im letzten Jahrzehnt wurde uns klar, dass die wenigsten auf ein Bleiberecht hoffen durften. Mit der Verschärfung der Verfahren stieg die Zahl der Abschiebungen. Die Polizei kam nachts oder Frühmorgens mit Handschellen, um die Abschiebung auszuführen: "Rückkehr nicht gestattet" steht dann im Pass. Es musste eine freiwillige Rückkehr organisiert werden, doch es brauchte Anlaufstellen in diesen Ländern. Der Krieg in Jugoslawien forderte aber mehr: Schon vor der drohenden großen Abschiebewelle. Die Bosnien-Heimkehrhilfe sollte eine Lösung bieten.

Mit einer ungeheuren Vorleistung und vielen Sponsoren war es gelungen 120 Bosnier in drei Konvois innerhalb von zwei Jahren mit 140 Tonnen Hab und Gut zurück in ihre Heimat zu bringen, die dort versuchen konnten, ohne uns zu existieren. Doch das ist schwerer als man denkt. Wir mussten helfen Dächer Decken und Arbeitsplätze finanzieren, wir halfen weiter mit beim Studium oder bei Krankheiten. Doch sitzt uns schon der Kosovo im Nacken, der absehbare Zwang zur Heimkehr der Albaner. Zusätzlich zu den normalen Flüchtlingen kam eine ganze Anzahl an "Illegalen", die in Familien Unterschlupf fanden. Wir führen seit geraumer Zeit entsprechende Heimkehrgespräche im albanischen Verein, im Frauenkreis und mit "Illegalen". Statt in fremde Städte müssen die Albaner in ihre eigenen Trümmer zurückziehen. Ein Beispiel: Ein 16jähriger landete nach eine Odyssee hier in Singen bei seinem Onkel in Singen. In seinen Träumen schreit er jede Nacht. Der Onkel wollte ihm zum Urlaub in die Heimat fahren, doch wie ohne Passe zurück zu den Eltern?

Nach viel Verhandlungen und einer Unmasse an bürokratischen Vorgängen konnten die zwei Flüge gebucht werden, doch dann war auch noch das Flugzeug überbucht. Jetzt musste man am Flughafen für die Unterbringung bis zum nächsten Tag suchen. Nicht jede Heimkehr kann auf diese Weise über uns finanziert werden. wir hoffen, dass der Staat die Kontingentflüchtlinge selbst nach Hause bringt. Für uns bleibt noch genug, bei der Heimkehr in die Trümmerlandschaft zu helfen.

Frede Möhrle (bearbeitet von Oliver Fiedler)


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