Jahr/Epoche

Info

Herbst 1989, die Mauer fällt. Tausende strömen aus der ehemaligen DDR in den Westen. Vorbei sind die Zeiten, in denen Menschen vor dem sozialistischen Regime im Osten flüchten, so wie Reinhold Kinder 1961 kurz vor dem Mauerbau. Im Wochenblatt-Gespräch erinnert sich der Inhaber des gleichnamigen großen Baustoffhandels in Stockach. Jede Einzelheit des 20. Juni in jenem Jahr weiß er noch ganz genau. Er erzählt, warum er sich als junger Mann, ohne Wissen der Geschwister und der Mutter, heimlich aus der Heimat davonstehlen musste.

Suchen Sie in der Geschichte des Landkreises

Geschichte des Landkreises Konstanz

Die längste Viertelstunde seines Lebens

"Die Viertelstunde bis zum Abflug nach Düsseldorf war die längste meines Lebens." Noch immer weiß Reinhold Kinder, Schon 1957 hatte seine Schwester den gleichen Weg gewählt.

Dorthin war der damals 19jährige nun unterwegs. Eine Zukunft wollte er haben, denn die wurde ihm in seiner Heimat - er stammt aus dem Erzgebirge - verwehrt. Eben weil die Schwester sich in den Westen abgesetzt hatte, gab es für Reinhold Kinder nach den Pflichtjahren in der Volksschule und zwei weiteren Jahren Oberschule keine Möglichkeit, zur Bundeswehr zu kommen, was ihm den Weg zu weiterer Ausbildung und Studium ermöglicht hätte. Genau das aber war sein Ziel. Reinhold Kinders Mutter hatte ihn, seine Schwester und zwei Brüder allein durchbringen müssen. Der Vater war 1942 im Krieg in Russland gefallen. In Nienstedt bei Halle hatte er im Kupfererzbergwerk gearbeitet, zehn Tage hindurch, dann gab es drei Tage frei, um nach Hause zu fahren. Diese Heimfahrt im Bus nutzte Reinhold Kinder schliesslich für sein Vorhaben. Statt nach Hause zu fahren, kaufte er ein Bahnticket und fuhr nach Berlin. Um von dort weiter durchzukommen, hatte er sich etwas einfallen lassen müssen. Mit einem großen Foto von sich unter dem Arm, seine Verlobung mit einer Frau in Potsdam vortäuschend, bestieg er den Zug. Geradewegs zum Flugplatz Tempelhof, wo er seine gesamten Ersparnisse - 680 Ostmark - für ein Flugticket nach Düsseldorf einsetzte.

Die ganze Zeit über mit der Angst im Nacken, doch noch gefasst zu werden. "Es gab Leute, die gaben vor, einem den Weg zeigen zu wollen, und schon war man wieder im Osten." Dann wieder Zittern wieder beim Passieren der amerikanischen Kontrolle. "Heute weiß ich, dass die sich das damals wohl gedacht haben," meint Reinhold Kinder. Sie liessen ihn durch. Der Weg in die Freiheit war offen. "Im Flugzeug gab es dann etwas zu essen, aber ich hatte doch kein Geld mehr," erzählt er weiter. Woher hätte er auch wissen sollen, dass so etwas im Flugpreis inbegriffen war? Schon am 22. Juni hatte Reinhold Kinder in seinem erlernten Beruf als Maurer Arbeit gefunden. "Aber für meine Mutter war das eine schwere Zeit," sagt er. Sein Weg führte ihn dann nach Konstanz, gemeinsam mit seiner Frau, die er in Düsseldorf kennengelernt hatte. Dort ging Reinhold Kinder seinen Weg weiter, arbeitete mehrere Jahre in einer grossen Firma, machte die Meisterprüfung, bis er schliesslich mit der Familie - das Ehepaar Kinder hat drei Kinder - in Stockach das jetzige Unternehmen aufbaute. Auch die Mutter wohnte zwischenzeitlich in der Nähe. "Aber wir hatten kaum Zeit füreinander, unser Betrieb liess kaum Raum für die Familie."

Kontakte zu Verwandten in der ehemaligen DDR hat Reinhold Kinder bis heute nicht. Nach dem Fall der Mauer 1989 ist die Familie zwar einmal im Osten gewesen. "Aber es war noch schlimmer, als ich es in Erinnerung hatte," sagt Reinhold Kinder. Sein Sohn habe gesagt, dass er nun endlich glaube, was ihm der Vater erzählt habe. "Wer es nicht erlebt hat, kann es nicht nachvollziehen," sagt Reinhold Kinder, dessen Brüder ebenfalls, seit Juli 1961 beziehungsweise 1987, im Westen sind. Auch 1989 sei es für die Menschen aus der DDR zuerst noch eine Flucht gewesen, denn keiner habe schliesslich gewusst, ob die Mauer wirklich fällt, meint Reinhold Kinder . Und dass die Wiedervereinigung nicht für alle eine goldene Zukunft bereithielt? "Schliesslich gilt es, hart zu arbeiten, um etwas zu erreichen," so Reinhold Kinder. Das Anspruchsdenken von so manchem sei wohl zu hoch gewesen.

Sabine Strantz


« ... blättern ... »