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Es ist die zweite Fusionswelle nach den 70ern und frühen 80ern, die auch auf die Region richtig durchschlug: 1972 übernahm der schweizerische Oerlikon-Bührle-Konzern Contraves in Stockach, 1975 holt sich Klöckner-Humboldt-Deutz (KHD) die Macht in der Landmaschinenfabrik Fahr. Für den Standort in der Region bedeuteten die Übernahmen schon damals den Verlust von Arbeitsplätzen: Fahr hatte 3000 Mitarbeiter zu seinen besten Zeiten, 1988 wurde das Unternehmen aufgelöst, Contraves ist zusammengeschrumpft nach der Übernahme. Nach dem Kauf der Messmerschen Betriebe in Radolfzell durch TRW gingen hunderte von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer verloren. Die Erkenntnis heute: Deutschland war als Produktionsstandort vielfach nicht mehr wettbewerbsfähig.

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Fusionitis: Virus oder Chance?

Die Bürgermeister wussten in den 70ern und 80ern noch Bescheid, wenn der Betrieb vor Ort vor großen Umwälzungen steht. Stockachs Bürgermeister Franz Ziwey beispielsweise kämpfte in vielen Konferenzen selbst für den Fahrstandort in Stockach, verlor aber letztlich gegen Konzerninteressen. In den 90ern sind Fusionen größer und meist für die örtliche Macht nicht mehr zugänglich gewesen: Als Algroup und Viag fusionieren sollten, stellte man spätestens fest, dass der SIngener Alu-Standort zu teuer ist. 450 Arbeitsplätze sind wieder für die Region verloren. Der besorgte Brief vom Singener Oberbürgermeister an Konzernchef Marcchionne wurde nie beantwortet.

Ob sich das die Wirtschaftskapitäne früherer Zeit getraut hätten, zumal sie zumeist von der Gunst von Bürgermeister und Gemeinderat abhängig waren? Jetzt kommt die Fusion der Algroup mit zwei weiteren Unternehmen zum größten Aluverarbeiter der Welt. Entschieden wird künftig in Kanada und die Region bangt um weitere Arbeitsplätze. Fusioniert wurde in den 90ern in allen Branchen: Aus den Sparkassen Singen und Radolfzell wurde eine, aus den Volksbanken Konstanz und Radolfzell ebenfalls, die Volksbanken Stockach und Überlingen sind schon früher fusioniert, Engen und Singen haben heute eine gemeinsame Volksbank. Kolossa wird von der Spar-Gruppe übernommen, dann mit der gesamten Intersparkette rund ein Jahr später von Wal-Mart geschluckt.

Der Filialleiter vor Ort darf jedes Mal die Änderungen umsetzen, der Mitarbeiter verspürt zumeist Ohnmacht gegenüber der jeweils neuen Macht im Haus. Dass Volkswagen heute Seat und Skoda sein eigen nennt, hatte Folgen auch für die Autohäuser vor Ort. BMW vertritt Rover gleich mit. Es sind Branchenriesen entstanden, die hier in der Region wie überall auf der Welt die Macht über den Konsumenten von den Kleinunternehmern und vielfach auch von den Mittelständlern übernommen haben. 91000 Stellen hat der neue Alukonzern APA, in dem die Algroup Teil sein soll, TRW beschäftigt rund 80000 Menschen weltweit. Die Autokonzerne haben ihre Zulieferer weltweit so fest im Griff wie noch nie. Die Produkte der Giganten erobern unseren Alltag: In fast jedem Büro werden Produkte des Softwareginganten Microsoft verwendet - weltweit.

Auch die regionalen Fusionen sind nicht von Pappe: Die Sparkasse Singen-Radolfzell hat eine Bilanzsumme von rund 3,5 Milliarden Mark. Ob die regionalen Bankenfusionen der letzten Jahre das Ende des Fahnenstange sind, ist keinesfalls heraus. Bankengrößen wie die der Stockacher Sparkasse sind nur noch selten in Deutschland. Vor Ort will man natürlich die eigene Bank behalten. Fusioniert wird, weil viele Großen glauben, dass sie den Markt besser beherrschen können, wenn sie noch größer werden oder der Wert ihrer Aktien steigt. Shareholder Value, der Wert einer Firma für den Teilhaber, das ist ein Stichwort des Jahrzehnts. Der Textilhersteller Schiesser will an die Börse und das Unternehmen muss ein Appetithappen für Anleger werden. Die Standorte Stockach und Rielasingen sind geschlossen, Engen soll folgen, Radolfzell wird schrumpfen. Lokal ist der Fusionitis nicht zu begegnen: Standorte sind für Weltkonzerne beliebig austauschbar.

Die überschaubare Welt vor Ort droht schon bald für viele einfach nicht mehr zu existieren: Standorte - auch von Arbeitnehmern werden sie gewechselt werden müssen. Wirtschaftsförderer müssen in passenden Größeneinheiten global für ihren Standort werben, die Politk vor Ort muss letztlich der Wirtschaft dienen oder auf Arbeitsplätze und Steuern verzichten. Und die Chancen vor Ort sind dann plötzlich die kleinen Unternehmer, die neue Lücken finden müssen, die die Giganten zwangsläufig lassen

Anatol Hennig


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